Täter mit weißer Weste – dank Verjährung und Datenschutz
Die Crux mit der Verjährung und weitere Hemmnisse
Im Namen unseres Bruders
Markus P. tritt im Alter von etwa 9 Jahren in eine Pfadfindergruppe ein. Einige Jungs aus seinem Freundeskreis sind dort bereits Mitglied und schwärmen von den Aktivitäten der Pfadfinder. 20 Jahre später ist sein Leidensdruck so hoch, dass er sich das Leben nimmt. Erst kurz vor seinem Suizid erfährt die Familie, was sich damals bei den Pfadfindern zugetragen hat: Mehrere Kinder erleiden durch mehrere Täter schwerste sexualisierte Gewalt. Der Täter im Fall von Markus P., ein damaliger Gruppenleiter, wird angezeigt. Das Verfahren aufgrund von Verjährung eingestellt.
Im Laufe der folgenden Jahre ergeben sich für die Ermittlungsbehörden weitere Hinweise in Bezug auf den Täter Uwe D. im Zusammenhang mit sog. Kinderpornografie. Die Beweise reichen für ein Verfahren nicht aus. Zuletzt wird man im Jahr 2015 auf Uwe D. aufmerksam, als er sich einem Jungen aus einer Wohngruppe unangemessen nähert, als dieser ein Praktikum bei C&A absolviert. Getarnt als super netter Kunde verbringt er mehrere Pausen mit dem Jungen, macht ihm Versprechungen und Geschenke. Auch das reicht nicht für ein Verfahren.
Miteinander verknüpfte Täter nutzen die Strukturen der Pfadfinder und Jugendbewegungen über Jahrzehnte, Mitwisser distanzieren sich zwar, schweigen aber
Erst im Jahr 2022 (!) werden die Annahmen der Familie zur schwer aushaltbaren Realität . Der Kulturwissenschaftler Sven Reiß stellt 2021 der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs seine Ergebnisse zur Vorstudie „Pädosexuelle Netzwerke in Berlin“ vor. Almut Heimbach veröffentlicht 2022 ihr Buch „Ohne vorgehaltene Hand“ in dritter Auflage und muss sich immer noch mit Klage-Verfahren dort benannter Akteure auseinandersetzen. Das Bemühen um Aufarbeitung fördert zutage, was wir nicht ohne vorgehaltene Hand sagen dürfen, ohne uns strafbar zu machen. Sehr viele Indizien für ein groß angelegtes Netzwerk von Tätern mit nationalen und internationalen Kontakten. Da ist unser Bruder damals als ein Kind von vielen hineingeraten und niemand wurde dafür je zur Verantwortung gezogen. Verjährung ist ein Grund dafür, warum die Täter keine strafrechtlichen Konsequenzen zu erwarten haben und den Opfern und deren Familien ein Schweigegebot auferlegt ist.
Unserem Bruder Markus P. wurde durch die Verbrechen die Lebensgrundlage entrissen. Das Vertrauen in sich und andere unwiederbringlich zerstört. 20 Jahre nach den Taten gegen ihn und andere hat er den Kampf aufgegeben. 2007 hat er sein Leben beendet. Die Täter und die Mitwisser sind noch da draußen. Sie haben nie eine Konsequenz für ihr Handeln erfahren. Denkt ihr, sie sind heute geläutert? Wir können uns das nicht so recht vorstellen.
In dubio pro reo – Im Zweifel für den Angeklagten
Den Ermittlungsbehörden fehlt die Handhabe. Alle Aktenvermerke zu den Vorgängen um Uwe D. sind gelöscht. Der Datenschutz hat zugeschlagen. Die Indizien aufgrund von Verjährung unbrauchbar. Früher habe man präventiv ermitteln können. Aber schon seit Langem erlaubten es die zeitlichen und personellen Ressourcen nicht mehr. Außerdem behinderten die Löschungsfristen aufgrund des Datenschutzes ein Speichern der Indizien für längere Zeit. Das Recht des Täters auf Unbescholtenheit. Heute hat er eine weiße Weste. Keinen Eintrag ins Führungszeugnis. Er ist bestimmt immer noch nett und charismatisch. Es gibt keinen Grund, ihn nicht mit Jugendlichen arbeiten zu lassen. Kein Indiz für eine unlautere Vergangenheit.
Was im strafrechtlichen Sinne verjährt ist, verliert auch häufig in der Gesellschaft und im persönlichen Umfeld an Bedeutung. Die Annahme „Wenn da was dran gewesen wäre, wäre der Täter doch verurteilt“ entbindet uns von der eigenen Verantwortung, genauer hinzusehen und uns weitergehend zu informieren.
So haben Betroffene weiterhin in vielen Bereichen mit fast unüberwindbaren Hürden zu kämpfen. Sei es im Gesundheitswesen, in Opferentschädigungsverfahren oder im persönlichen Umfeld.
Kämpfen, kämpfen, kämpfen! Das ist leider die Lebenswirklichkeit vieler Überlebender sexuellen Missbrauchs/sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend.
#Sexualisierte Gewalt gegen Kinder #Kindesmissbrauch
Es ist für Betroffene, Angehörige, Partner*innen und Bystander schwer zu ertragen und in manchen Fällen noch schwerer zu verstehen: Täter*innen werden jahrelang geschützt, werden freigesprochen oder es kommt, wie in den allermeisten Fällen, erst gar nicht zur Aufnahme einer Anzeige oder aufgrund anderer Hemmnisse wie Verjährung trotz Anzeige zur Einstellung des Verfahrens.
So manches Mal stehen wir sprachlos und betreten da und fragen uns, welchen Sinn unsere Arbeit macht, wenn doch der rechtliche Rahmen derart eng gesteckt ist und den Ermittlungsbehörden vielfach die Hände gebunden sind.
Im Namen unseres Bruders Markus (P.) und vieler weiterer Betroffener und Bystander werden wir weiterkämpfen: Politisch, gesellschaftlich und menschlich!
Steffi & Michaela
(Fachliche Leitung & Vorstand Tour41 e.V.)
Damit wir uns weiterhin aktiv für den Kinderschutz und für Betroffene einsetzen können, brauchen wir Unterstützung in Form von (regelmäßigen) Spenden. Hier findest du alle Informationen zu Spenden.
Wir bedanken uns ganz herzlich bei allen Helfenden und Unterstützenden für ihren Beitrag und wir danken den vielen Betroffenen und Bystandern für ihren Mut sich zu zeigen, laut zu sein und dem Wegschauen, Zweifeln und Leugnen die Stirn zu bieten!