Die realen Dimensionen sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
Die offiziellen Zahlen der PKS sind nur die Spitze des Eisbergs
Heute wurden die Zahlen kindlicher Gewaltopfer im Zuge der Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik für 2021 veröffentlicht. Die Zahlen sind erschreckend – und doch zeigen sie nicht annähernd die wahren Dimensionen dieser Verbrechen:
Die große Not auf der Suche nach Unterstützung und Hilfe, sowohl der betroffenen Kinder und Jugendlichen mit oft lebensprägenden Auswirkungen, als auch der Angehörigen und Verbündeten im Umfeld der Kinder. Die Überlastung der Ermittlungsbehörden und des Helfersystems. Strukturell müssen wir vieles überdenken – gesetzlich, gesellschaftlich und menschlich – die Dimensionen begreifen. Denn nur ein Bruchteil der Fälle wird sichtbar.
Das Hellfeld (= Zahlen der angezeigten Fälle)
145 Kinder wurden Opfer eines Tötungsdelikts – 83 vorsätzlich, 62 fahrlässig, der überwiegende Teil der getöteten Kinder war jünger als 6 Jahre
4.387 Kinder wurden Opfer von Misshandlung
17.704 Kinder und Jugendliche wurden Opfer von sexualisierter Gewalt, ein Anstieg auf 49 Kinder täglich – es wird davon ausgegangen, dass das Dunkelfeld um ein Vielfaches höher ist. Nur etwa jeder 20. Fall wird angezeigt.
Mehr als 39.000 Fälle von Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung von Bildmaterial, das sexuelle Ausbeutung von Kindern, zum Teil schwerste sexualisierte Gewalt, zeigt – ein Anstieg von 108,8 %!
Ermittlungserfolge überwiegend aufgrund von Daten aus den USA
Die Aufdeckung von Tätern erfolgt größtenteils erst durch Ermittlung und die Auswertung von Aservaten nach Hinweisen durch die NECMEC, National Center for Missing & Exploited Children (Nationales Zentrum für vermisste und ausgebeutete Kinder), eine private gemeinnützige Organisation in den USA.
Im Jahr 2021 lieferte die NECMEC 78.600 Hinweise mit Deutschlandbezug. 62.300 Fälle davon waren strafrechtlich relevant. Die Zusammenarbeit mit der NECMEC erfolgt immer zielgerichteter, mit besseren technischen Möglichkeiten zum Auffinden von Bildmaterial. Die Behörden arbeiten weltweit immer enger zusammen.
Für 2022 wird ein weiterer Anstieg erwartet. Das erhöhte Hinweisaufkommen ist ein wesentlicher Faktor zur Aufdeckung. Dabei wird die Auswertung der Daten jedoch häufig durch den Datenschutz in Deutschland verhindert.
Eine große Hürde für Ermittler
Im letzten Jahr konnten 2.100 Fälle nicht ausermittelt werden, weil die Speicherfrist für die IP-Adressen abgelaufen war. Somit mussten in den letzten 5 Jahren 19.150 Ermittlungsverfahren wegen fehlender Vorratsdatenspeicherung eingestellt werden. Das bedeutet, dass tausende Kinder nicht oder nur mit Zeitverzug geschützt werden können.
Ressourcen und Fähigkeiten der zuständigen Behörden sind nicht in ausreichendem Maße vorhanden und müssen dringend ausgebaut werden. Prävention und Unterstützung für betroffene Kinder und Familien sind dringend erforderlich: Aufklärungskampagnen über die Sozialen Medien, Hilfsangebote (persönlich, im Internet oder telefonisch), Unterstützung von Schulen durch Aufklärungsarbeit. Aufmerksamkeit durch das soziales Umfeld ist gefragt – lieber einmal mehr als einmal zu wenig. Auch Kinder sollten sensibilisiert werden, besonders in Bezug auf die Mediennutzung.
Jede*r Einzelne ist gefordert.
Erschreckende Zahlen waren zu erwarten – Kontinuität statt Wellen des Erschreckens
Laut Kerstin Claus, Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauch der Bundesregierung, waren diese erschreckenden Zahlen in dieser Höhe zu erwarten. Die Fälle erhöhen den Handlungsdruck. Hier hat insbesondere NRW die Anstrengungen und Fahndungen deutlich intensiviert. Täter dürfen sich nicht sicher fühlen. Mehr Ressourcen führen zu mehr substanziellen Erfolgen. Das sollte in allen Bundesländern Priorität haben. Ländergrenzen sind keine Grenzen für Täter.
Die Zahlen der PKS bilden nur das Hellfeld ab – die Fälle, die ausermittelt und an die Staatsanwaltschaft übergeben wurden. Ob und inwieweit die Strafverfolgung erfolgreich war, kann nicht abgebildet werden. Das tatsächliche Ausmaß wird nicht widergespiegelt. Valide Zahlen werden benötigt. Daher fordert Kerstin Claus gemeinsam mit dem Nationalen Rat ein Forschungszentrum zur Prävalenz sexueller Gewalt. Es sei ein Skandal, dass Zahlen zum Dunkelfeld bisher fehlten, so Kerstin Claus. Mit jedem neuen Missbrauchskomplex der bekannt wird, gibt es Wellen des Erschreckens. Was benötigt wird, ist Kontinuität.
Über 60 % der Missbrauchsabbildungen von europäischen Servern
Anders als in Europa, suchen Provider in den USA aktiv nach Missbrauchsabbildungen. Die EU-Kommission geht davon aus, das über 60 % des weltweiten digitalen Materials, das Missbrauch und sexuelle Gewalt von Kindern und Jugendlichen zeigt, auf europäischen Servern gehostet und von dort abgerufen wird. Ein rechtlicher Rahmen und gesetzliche Grundlagen für internationale Zusammenarbeit ist geplant.
Datenschutz und Kinderschutz sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Beides ist wichtig. Allerdings ist der Kinderschutz bisher in der Diskussion eher untergegangen.
Die Gewalt beginnt nicht mit dem Foto, mit der Aufnahme – aber wir können betroffene Kinder über das Bildmaterial finden und schützen. Der Ausbau von Ressourcen bei Bund, Ländern und auf internationaler Ebene ist dringend geboten und wird angestrebt.
Kein Kind kann sich alleine schützen! Wir sind alle gefragt, uns zu informieren und zu sensibilisieren.