Vom Vater missbraucht – Svenja Langheim bricht ihr Schweigen
Quelle: Haller Kreisblatt
Anja Hanneforth am 20.07.2024 um 9:09 Uhr
Vom Vater missbraucht: Wertheranerin (52) macht ihre Geschichte öffentlich
Oft geht es ihr schlecht, lange weiß Svenja Langheim nicht, was mit ihr los ist. „Meine Überlebensstrategie war das Verdrängen.“ Dann trifft sie die richtige Therapeutin – und alles kommt ans Licht.
Werther. Wer als Kind sexuellen Missbrauch erfahren hat, leidet oft ein Leben lang. Manche können nicht einmal im Alter darüber sprechen. Zu der Gruppe gehört Svenja Langheim nicht. Die 52-jährige Wertheranerin wurde im Grundschulalter von ihrem Vater missbraucht. Wie viele andere war auch sie lange Meisterin im Verdrängen. Heute nicht mehr. Konsequent macht sie das Thema öffentlich. „Das muss endlich für Betroffene möglich sein, ohne stigmatisiert zu werden“, fordert sie. „Denn nur wenn man das Schweigen bricht, bricht man die Macht der Täter.“
Svenja Langheim stammt gebürtig aus dem Harz. 1972 wird sie in der Nähe von Goslar geboren und wächst mit zwei Schwestern in einem „sehr gut situierten Elternhaus“ auf, wie sie selbst sagt. Der Vater arbeitet in der Geschäftsleitung eines internationalen Großkonzerns in Hildesheim, die Mutter ist Hausfrau. Svenja Langheim besucht erst die Realschule, dann die Höhere Handelsschule. „Ich war eine gute Schülerin“, erzählt sie. Doch immer wieder gibt es „schwierige Phasen“, die sie nicht einordnen kann. „Da war etwas in meinem Rucksack, von dem ich nicht wusste, was es war.“
Die Lage spitzt sich zu
Das Wirtschaftsgymnasium bricht sie ab und beginnt eine Ausbildung zur Kommunikationselektronikerin. Der Liebe wegen zieht sie nach Bielefeld, will am Westfalen-Kolleg ihr Abitur nachholen, muss aber mit der Fachhochschulreife aufhören. „Es ging mir damals nicht gut“, erinnert sie sich. Sie bekommt Panikattacken, kann nicht mehr Straßenbahn fahren, ihr „Ich“ wird ihr Gegner. „Die Lage spitzte sich zu.“
Ärzte vermuten zunächst eine Herzneurose. „Dass bei Frauen immer gleich alles auf die Psyche geschoben wird“, ärgert sich Svenja Langheim. Dann ist klar, sie hat eine Autoimmunkrankheit, bekommt Medikamente. Wirklich besser wird ihr Zustand nicht. Bei einem Feldenkraiskurs soll sie die Arme hinter dem Kopf verschränken. „Das war wie ein Trigger. Ich bekam Flashbacks, die ganzen Körperempfndungen kamen zurück.“ Was sie damals nicht weiß: Es war die Haltung, mit der ihr Vater dafür sorgte, dass sie sich bei den Übergriffen nicht wehrt.
Eine glückliche Fügung kommt Svenja Langheim schließlich zu Hilfe. Sie trifft eine Psychotherapeutin, die vielleicht schon ahnt, was das Problem sein könnte. „Wenn ich sie nicht gehabt hätte, wäre mein Leben wohl anders verlaufen.“ Die Frau nimmt Svenja Langheim mit auf eine Bilderreise. Indirekt gewährt die Arbeit mit den Bildern den Blick ins Unterbewusstsein der Wertheranerin. „Da stand zum ersten Mal das Thema Missbrauch im Raum.“
Über Jahre vom Vater missbraucht
Svenja Langheim weint viel in dieser Zeit. Doch ihr Leben ist nicht nur traurig. Sie wird schwanger, bekommt einen Sohn, hat viele erfüllende Phasen. Sie macht eine Ausbildung zur Heilpraktikerin, eröffnet 2006 eine eigene Praxis, bildet sich in Naturheilverfahren weiter, arbeitet als Referentin für Psychische Traumafolgestörungen. Nebenbei geht sie zur Therapie.
Es kommt alles ans Licht: Der Vater hat sie sexuell missbraucht. Es fängt an, als sie im Grundschulalter ist, und geht über Jahre. Svenja Langheim erzählt nicht viel davon. Nur, dass viele Vorfälle im Schwimmbad passiert sind, das zum Anwesen gehört. „Als Jugendliche habe ich meinem Vater die Pest an den Hals gewünscht“, sagt sie.
Ihn zur Verantwortung ziehen kann sie nicht. Als sie 17 Jahre alt ist, bringt er sich um. „Nicht wegen mir“, sagt die Wertheranerin. „Sondern weil er sich geschäftlich verspekuliert und alles verloren hat. Den Status, das Haus, alles. Meine Mutter musste danach in einer Fabrik arbeiten. Würde er noch leben, hätte ich ihn angezeigt.“
Was hat ihre Mutter gewusst?
Mit ihrer 82-jährigen Mutter kann Svenja Langheim bis heute nicht über die Vorfälle sprechen. „Ich weiß nicht, was sie wusste. Wir haben ein gutes Verhältnis. Aber sie verdrängt das Thema noch immer.“ Ihren beiden Schwestern gegenüber hat sie das Thema zwar angesprochen – „aber besprochen ist nichts.“ „Das Perfide ist, dass die Täter genau wissen, wie sie Kinder zum Schweigen bringen. Oft wirkt das ein Leben lang nach. Aufgrund von Angst, Schuldgefühlen und Scham.“ Hilfe hat Svenja Langheim als Kind keine erfahren. Heute ist sie sich sicher: „Man hätte es sehen können.“
Ihr wird flau im Magen, wenn sie an statistische Erhebungen denkt, nach denen in jeder Klasse durchschnittlich zwei Kinder von sexuellem Missbrauch betroffen sind. Jeder kenne also jemandem, dem dies widerfahren ist. „Nur will das keiner hören. Niemand will seine heile Umwelt infrage stellen.“
Täter wissen, wie sicher ihr System ist
Am bittersten für Svenja Langheim: Dass der Aufschrei beim Bekanntwerden jedes neuen Falls groß ist, genau wie die Forderung, es müsse mehr getan werden. „Und dann passiert doch nichts.“ Manchmal habe sie das Gefühl, dass die Erwachsenen mehr geschützt werden als die Kinder. „Und die, die den Missbrauch verursachen, wissen das. Sie wissen, wie sicher ihr System ist.“
Auch wenn die 52-Jährige die Übergriffe inzwischen verarbeitet hat – Folgen gibt es noch immer. Sie mag keine unbekannten Geräusche und Gerüche. Wenn sie in eine neue Wohnung zieht, braucht sie ein paar Wochen, bis sie sich an alles gewöhnt hat. Zimmertüren stehen bei ihr immer offen – genau wie als Kind. „Nicht weil ich wollte, dass mein Vater zu mir kam. Sondern weil ich hören wollte, wann er kam. Und weil ich riechen wollte, ob er Alkohol getrunken hatte.“ Ein weiterer Effekt des Missbrauchs: „Mir widerstreben schweigende Systeme. Bei meinem Vater war nach außen hin alles schillernd, die heile Welt. Die Wahrheit sah anders aus.“ Auch lässt sie sich von niemandem mehr sagen, was sie aussprechen darf und was nicht. „Und ich verachte Sätze wie ’Stell dich nicht so an’ oder ’Da hast du wohl etwas in den falschen Hals bekommen’.“
Wie erzähle ich es meinem Partner?
Richtig schwer auszuhalten sei, dass viele Betroffene beim Erzählen der eigenen Geschichte ein Gefühl des Beschmutztseins emfinden. „Der Grund dafür, warum so wenige an die Öffentlichkeit gehen. Auch ich habe mich lange gefragt: Wie erzähle ich es meinem Partner? Meinen Kindern? Erzähle ich es überhaupt?“
Heute kann Svenja Langheim sagen, dass die Verletzungen, die sie als Kind erlitten hat, sie zu der Frau gemacht haben, die sie heute ist. Sie ist als Dozentin in der Erwachsenenbildung tätig, hat als Projektkoordinatorin für von Gewalt betroffene und traumatisierte Frauen gearbeitet, als Ausbilderin im Bevölkerungsschutz und während der Corona-Jahre bei der Stadt Bielefeld im Corona-Management. Danach wieder als Heilpraktikerin in ihrer eigenen Praxis. Aber das reicht ihr nicht. Parallel zu all dem beginnt sie 2016 in Teilzeit einen Bachelor-Studiengang in Angewandter Psychologie an der Apollon-Hochschule in Bremen. Im November 2023 schließt sie das Studium sehr erfolgreich ab. Ihre Bachelor-Arbeit ist sogar für den Apollon-Studienpreis 2024 nominiert. Im Oktober erfährt sie, ob sie zu den Preisträgern gehört. Als Thema hat sie sich mit der Frage beschäftigt, wie die Anonymisierung im Internet Online-Täter schützt, die sich des sexuellen Kindesmissbrauchs schuldig gemacht haben. „Meine beiden Professoren wussten nichts von meiner Vergangenheit. Erst hinterher habe ich ihnen davon erzählt.“
Opfer ermutigen, sich Hilfe zu holen
Jetzt erzählt sie die Geschichte also auch hier. „Erst wenn Betroffene offen über Missbrauch reden, wird es für die Täter schwer.“ Auch will sie Opfer ermutigen, sich Hilfe zu holen. „Egal, wie alt sie sind.“ Hilfe bei der Aufarbeitung der Übergriffe, aber auch bei der Übernahme von Therapiekosten oder einer berufichen Veränderung. Sie selbst etwa hat Gelder aus einem Fonds für Bildungszwecke bewilligt bekommen, was ihr das Studium ermöglicht hat. Wie ein „Gewinn im Lotto“ sei das gewesen, sagt sie. Und hat jetzt, mit 52 Jahren, immer noch Pläne. Möglicherweise den Master zu machen. Im Bereich Notfall-Psychologie zu arbeiten. „Bei der Bewältigung von Missbrauch gibt es keinen einheitlichen Weg. Was für den einen funktioniert, muss für den anderen noch lange nicht funktionieren. Aber man kann es schaffen.“
Svenja Langheim emfiehlt einen Blick auf folgende Internetseiten: www.hilfe- portal-missbrauch.de; www.kein-taeter-werden.de; www.tour41.net.