„Was ich anhatte“ zeigt auch einen Teil unserer ganz persönlichen Geschichte
Trigger-Warnung!!!
Update vom 07.12.22:
Am Donnerstag, den 01.12.22, lud uns Beatrix Wilmes ein, sie bei einem sehr kurzfristig angefragten Dreh mit RTL zu unterstützen. Das anschließende Netzwerkgespräch mit Beatrix Wilmes, Jürgen Schulte-Michels und Sonja Howard, die als Mitglied im Betroffenenrat der UBSKM der Bundesregierung und in verschiedenen Gremien für Veränderung kämpft, empfanden wir als sehr wertvoll und bereichernd. Lieben Dank an Bea, Jürgen und Sonja. Es war schön euch kennenzulernen und wieder einmal zu spüren, dass wir nicht alleine kämpfen.
Das, was bei so einem mehrstündigen Dreh am Ende gesendet wird, spiegelt nicht immer den O-Ton dessen, was man gerne vermitteln möchte. Meist beschränken sich Medien wie RTL auf die emotionalisierenden Inhalte. Das ist nicht immer schlecht, vermittelt aber ein sehr einseitiges Verständnis. Denn schließlich geht es um Veränderung. Darum, gesellschaftlich neue Perspektiven zu eröffnen. Wir dürfen Betroffene nicht auf den Opferstatus reduzieren. Vielmehr geht es um Empowerment und Selbstermächtigung sowie den Weg dorthin. Gesellschaftlich ist es leichter wegzuschauen und sich abzuwenden. Es ist leichter, den Fokus auf die vermeintliche Schuld der Betroffenen zu richten. Denn das erzeugt in uns das Gefühl, dass uns so etwas nicht passieren kann. Leider ist das ein Trugschluss. Jede und jeder kann Opfer werden. Wenn wir uns der Realität stellen und der Angst entgegentreten, können wir den Tätern und Täterinnen etwas entgegensetzen.
RTL Nachtjournal vom 06.12.2022, Beitrag von Minute 12:30 bis Minute 9:18
Als uns Beatrix Wilmes fragte, ob wir uns mit dem Schicksal unseres Bruders an ihrer Wanderausstellung beteiligen wollen, mussten wir uns erst einmal mit der Familie beraten. Aber schließlich waren wir überzeugt, denn sexualisierte Gewalt hat viele Facetten und wir können mit den Klischees nur aufräumen, wenn wir sie alle zeigen.
„Was hattest du denn an?““ Warum hast du so lange nichts gesagt?““ Warum habt ihr nichts gemerkt?“ „Wieso bist du denn da nochmal hingegangen?“
Diese Fragen helfen nur Tätern! Sie suggerieren den Betroffenen eine Mitschuld. Tatsächlich hat eine Vergewaltigung nichts mit der Kleidung zu tun. Die Erzählung, die Frau, das Kind hat die Übergriffe provoziert, ist eine Tätererzählung. Die Frage, die im Fokus stehen sollte, ist diese:
„Welche perfiden Strategien wenden Täter an, damit die Betroffenen schweigen und das Umfeld nichts merkt?“
Wir brauchen eine Gesellschaft, die sich empathisch auf die Seite der Betroffenen stellt und die bereit ist hinzusehen, hinzuhören, sich zu informieren und die Klischees zu hinterfragen. Nur so können wir den Raum für Täter und Täterinnen (ja genau, Täterinnen gibt es auch) begrenzen. Und ja; auch Jungen sind betroffen. Wie unser Bruder. Dessen Kleidung ergänzt seit Kurzem die Ausstellung.
Besonderer Dank gilt Beatrix Wilmes, den Organisatorinnen, Aussteller:innen, Berichterstatter:innen, allen Beteiligten und in erster Linie den Überlebenden von sexualisierter Gewalt, die immer wieder ihren Mut beweisen sich zu zeigen und Teil u.a. auch dieser wichtigen Ausstellung zu sein
Der Text, der sich hinter dem QR-Code der Pfadfinder-Kleidung verbirgt
(Hinweis: Die Täter aus diesem Beitrag aus dem Bereich der Pfadfinder sind schon seit den 1990er Jahren nicht mehr im Bund aktiv. Wir sind mit dem entsprechenden Verband im Austausch. Dieser bemüht sich intensiv um Aufarbeitung und engagiert sich intensiv für Prävention.
#Kindesmissbrauch, #sexualisierte Gewalt gibt es in allen Bereichen unserer Gesellschaft).
Trigger-Warnung!
MARKUS
*02.08.1978 †11.08.2007
Mein lieber Bruder,
ich spüre die Trauer und das Loch in meinem Herzen ganz deutlich, während ich für die Ausstellung „Was ich anhatte“ Kleidung zusammenstelle, die deiner damaligen Kleidung bei den Pfadfindern ähnlich ist. Mama hat dir damals mit Freude die Abzeichen an das Hemd genäht. Glücklich darüber, dass sie dir den Besuch der Pfadfindergruppe samt Ausflügen und Ferienfahrten ermöglichen konnte. Sie hat sich immer Sorgen um uns Mädchen, deine Schwestern, gemacht. Nie hätte sie ahnen können, dass es ihren Jungen betreffen könnte.
Es war eine Zeit, in der du viele tolle Dinge gelernt hast und eine Zeit, in der du viele schöne neue Erfahrungen machen durftest. Deine Freunde und Klassenkameraden, die dich zu den Pfadfindern geholt hatten, konnten so viel Gutes über die Aktivitäten der Gruppe berichten. Der Gruppenleiter, Uwe D., der uns manchmal zu Hause besuchte und hauptberuflich Versicherungen verkaufte, war ein netter, engagierter, charismatischer, kinderfreundlicher, cooler und zugewandter Typ.
Ich wünsche mir heute so sehr, wir hätten damals das Wissen von heute gehabt.
Ich wünschte, die öffentliche Debatte wäre damals schon so geführt worden, wie heute.
Ich wünschte, man hätte uns damals schon Wissen über Täterstrategien vermittelt.
Ich wünschte, du, alle Kinder und die Erwachsenen hätten damals im Kindergarten und in der Schule schon etwas über Kinderrechte und Prävention von Kindesmissbrauch/sexualisierter Gewalt und Ausbeutung von Kindern gelernt.
Ich wünschte, du hättest damals gewusst, dass du nicht schuld bist, dass du nicht alleine bist, dass du darüber sprechen darfst, dass wir dir glauben.
Ich wünschte, du/wir hätten damals professionelle Hilfe gefunden, als du dich nach 20 Jahren des Schweigens uns anvertraut hast.
Ich wünschte, wir hätten dir helfen und dich bei uns behalten können.
Aber es war zu spät. Die Wunden zu tief. Der Täter hatte an dem Kind, das du damals warst, ganze Arbeit geleistet. Er hatte deine und unsere Wahrnehmung vernebelt, dich und andere Kinder manipuliert. Gemeinsam mit anderen Gruppenleitern/Tätern euch Kinder zu Mittätern erklärt, zum Schweigen erpresst. Euer Vertrauen in euch und die Welt unwiederbringlich erschüttert. Die Täter leben bis heute unbescholten und unbehelligt. Dank perfider Strategien, Verjährung und Datenschutz konnten sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
Während deiner Jugend konntest du das Erlebte verdrängen, abschalten. Du wirktest ausgeglichen, konntest Freundschaften und Beziehungen aufbauen. Doch dann hast du dich immer mehr zurückgezogen. Von der Welt, von uns, von dir selbst. Als du uns am 01.07.2007 von dem sexuellen Kindesmissbrauch und der Ausbeutung bei den Pfadfindern aus deiner Kindheit berichtet hast, hattest du dich längst entschieden diese Welt zu verlassen.
Seitdem ist die Welt für uns alle eine andere. Für uns als Familie, für unsere Kinder, für deinen Freundeskreis und alle, die dich kannten; für alle, die uns kannten, bevor unsere heile Welt zusammenbrach.
Du wirst für immer in unseren Herzen sein.
Deine Steffi
mit Mama und Michaela
Seit 2017 engagieren wir uns als Mitgründerinnen des gemeinnützigen Vereins Tour41 e.V. gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern und für Betroffene und Menschen, die ihnen beistehen. Wir bieten Beratung und Austausch, Öffentlichkeitsarbeit, Kampagnen, Präventionsarbeit und vieles mehr.
Das ist unsere Herzensangelegenheit.